Ein Privileg unserer Zeit

 

Als ich noch ein Kind war, träumten meine Freundinnen und ich davon, was wir einmal werden wollten. Mit ungefähr 8 Jahren lag der Beruf «Schriftstellerin» voll im Trend. Wir wollten eines Tages Pferdegeschichten und Abenteuer von Wölfen und Zauberern erzählen. Doch wir lebten in einem Jahrhundert, in dem es noch immer relativ teuer war, Bücher zu produzieren: Man brauchte Geld für Lektoren, Druck und Lagerflächen. Man brauchte Geld für die Vermarktung und den Transport. Und dann waren da die Verleger, die als «Gate Keeper» darüber entschieden, was gedruckt wurde und was nicht. Es war eine Welt, in der Privatpersonen noch keine Computer hatten, in der es noch kein Internet für alle gab. Für Privatpersonen war es eine analoge, sehr strukturierte, körperlich-materielle Welt. Unseren Eltern fiel es daher nicht ein, unsere Berufsträume zu unterstützen. Schriftstellerin war kein verlässliches Handwerk.

40 Jahre später sieht die Welt ganz anders aus: Sie ist vernetzt, kulturell vielfältig und demokratisch. Neben der materiellen Welt sind die virtuelle Welt und mehrere Mischformen entstanden. Jeder Mensch kann seine Meinung öffentlich äussern. Auf der inhaltlichen Ebene gibt es heute eine anerkannte Redefreiheit und ein Antidiskriminierungsgesetz, das sich sogar von Frauen gerichtlich einfordern lässt. Auf der technischen Seite haben die meisten Menschen ein Smartphone und damit die Möglichkeit, Gedanken kostengünstig zu teilen – per Text- und Sprachnachricht, auf einer eigenen Webseite (Social Media Profile sind technisch persönliche Webseiten), auf Youtube, auf einem Blog und sogar in einem eigenen Web-Verlag. Zugegeben, die meisten Blogger verdienen nichts an ihrer «Publikation». Doch der Gewinn ist unbezahlbar: Wir können ungehindert unsere Gedanken austauschen, über Landesgrenzen hinweg Geschichten erzählen und – das wertvollste Geschenk von allen – kostenlos von einander lernen! Wir können unser Wissen verknüpfen, unsere Erkenntnisse mit anderen teilen und erweitern. Wir können mit jedem Menschen, dessen Gedanken uns weiter bringen, in Dialog treten.

Natürlich leben wir dadurch auch in einer Zeit des Informationsüberflusses. Jeder kann alles publizieren. Das bringt unweigerlich viel Inhalt mit sich, den wir vielleicht nicht so gerne sehen, den wir nicht schätzen, den wir nicht brauchen, nicht wollen. Doch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden der Zensur durch die Obrigkeiten, ist unsere Zeit auch deshalb so spannend, weil wir uns selbst ausprobieren können – bis hin zu der Grenze, an der wir selbst merken, dass wir die «goldene Mitte» überschritten haben. Deshalb ist Eigenverantwortung eine der wichtigsten Fähigkeiten unserer Zeit. Es braucht Selbsterkenntnis und Balance, Bewusstsein und Reflexion. Niemand kann uns die Publikation unserer Gedanken verbieten. Und niemand ist da, um uns vor den Folgen dieser Publikationen zu warnen. Wir werden erst zur Rechenschaft gezogen, wenn wir – gewollt oder ungewollt – die Freiheit, die Integrität oder die Rechte eines anderen Menschen oder einer Organisation verletzt haben.

Es braucht also ein Verständnis für Kommunikation und ihre Wirkung. Wir alleine bestimmen, was wir lesen und was wir schreiben, wem wir folgen und was wir lernen wollen. Die Freiheit, einen Blog zu haben, ist deshalb für mich eines der wertvollsten Privilegien unserer Zeit.

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